Die Geburt der Bioethik als Abrechnung mit der Moral
Gewissensfreiheit – woher und wozu? (6)
ROM, 11. März 2010 (ZENIT.org).- “Gewissensfreiheit – woher und wozu?” Unter diesen Titel hat ZENIT eine Serie begonnen, die sich jeden Donnerstag dem aktuellen Thema “Gewissen und Freiheit” stellt. Der Autor ist Facharzt für Psychiatrie und Dozent für Psychologische Anthropologie an der deutschen Gustav-Siewerth-Akademie, Weilheim-Bierbronnen.
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Dr. med. Ermanno Pavesi
6. Die Geburt der Bioethik als Abrechnung mit der Moral:
Die Frage nach Menschenrechten und MenschenwürdeDie radikale Wende der medizinischen Ethik und ihr Bruch mit der traditionellen Moral ist auch durch die neue Bezeichnung Bioethik gekennzeichnet worden. Der Ausdruck Bioethik ist zum ersten Mal 1970 vom amerikanischen Biochemiker und Onkologen Van Rensselaer Potter (1911-2001) in einem Zeitschriftenartikel verwendet worden: Bioethics: The Science of survival. [1]
Mit Bioethik wollte Potter die engeren Grenzen der ‘humanen’ Ethik überwinden, und mit der Verbindung der Naturwissenschaften mit den humanistischen Fächern eine neue Form von interdisziplinärer Ethik entwickeln, um das Problem des Lebens global zu erfassen. Dieser Ausdruck ist aber bald von wichtigen Vertretern der medizinischen Ethik übernommen worden, um die neue Richtung in ihrem Fach zu bezeichnen. Wegen dieser neuen Verwendung des Wortes hat Potter in der Folge seine ethische Theorie ‘globale Bioethik’ genann
Am Erfolg und an der Verbreitung der Bioethik waren zwei wichtige Institutionen maßgeblich beteiligt: das Institute of Society, Ethics and the Life Sciences, Hastings-on-Hudson, NY (The Hastings Center), das 1969 unter anderen mit der Unterstützung der Rockefeller-Stiftung gegründet wurde, und das Joseph and Rose Kennedy Institute for Human Reproduction and Bioethics, das später in Kennedy Institute of Ethics at the Georgetown University unbenannt wurde. Das Kennedy Institute wurde 1971 vom Gynäkologen holländischen Ursprungs André Hellegers (1926-1979) mit der finanziellen Unterstützung der Joseph P. Kennedy Jr. Foundation gegründet. Hellegers, von 1964 bis 1966 Vize-Präsident der päpstlichen Kommission für die Geburtenregelung und Leiter des wissenschaftlichen Komitees der gleichen Kommission, war von dem Gang ihrer Arbeiten und später von der endgültigen Fassung der Enzyklika Humanae vitae schwer enttäuscht.
Für die Pioniere der Bioethik war eine Wende in der Ethik aus verschiedenen Gründen unbedingt notwendig. Die Protestbewegungen am Ende der Sechzigerjahre hätten die Krise der herkömmlichen Werte der Gesellschaft und die Existenz einer pluralistischen Gesellschaft bewiesen. Katholiken, wie Hellegers, haben sich vom Lehramt, von der Moraltheologie und von der Pastoralmedizin distanziert und strebten an, eine medizinische Ethik ohne jeglichen Bezug auf eine religiöse Lehre zu entwickeln. “Gefordert wird aber nicht ein verstärkter Rückgang zu klassischen Formen der ethischen Wertbegründung, seien diese nun naturrechtlich, kantisch, utilitaristisch, dialektisch oder auf den Offenbarungsglauben sich gründend. Ein solcher verzweifelter Versuch, neue Letztbegründungen für ein gemeinsames moralisches und kulturelles Handeln zu finden, wäre reaktionär und emanzipations- wie freiheitsfeindlich. Es würde die Mündigkeit des Bürgers und sein Selbstbestimmungsrecht zusammen mit seiner Selbstbestimmungsverantwortung nicht ernst nehmen und durch neue Formen von Heteronomie, wie sie noch in totalitären und teiltotalitären Gesellschaften herrschen, ersetzen”.[2]
Es wird also Abschied genommen sowohl von einer auf der religiösen Moral gegründeten Ethik wie auch von der Hoffnung der Moderne, eine neue Ethik auf einer rein rationalen Basis entwickeln zu können: “Für das engere Gebiet der biomedizinischen Ethik bedeutet dies eine Abkehr von der allgemeinen Gültigkeit der standesethischen Selbstbindung im Gefolge der hippokratischen Tradition. […] Wie auch immer im konkreten Fall entschieden wird, die Begründung der Bioethik muss nach anderen Spielregeln erfolgen als es der Offenbarungsglaube und dann im ersten Schritt der Aufklärung die inhaltliche Uniformität der Vernunft- oder Naturgesetze suggerierte”. [3]
Für diese Bioethik gibt es keine Grundlage mehr für gemeinsame moralische Normen, es geht eher darum, einen Weg zu finden, um die Autonomie des Einzelnen ohne allzu große Konflikte im Zusammenleben einer pluralistischen Gesellschaft zu garantieren.
Der Nationalsozialismus hatte gezeigt, dass die Abtretung der Rechte der einzelnen Bürger an den Staat verhängnisvolle Konsequenzen gehabt hatte, so dass die internationalen Organisationen nach dem II. Weltkrieg den Einzelnen vor der Macht des Staates schützen wollten. In diesem Kontext ist das Konzept der Menschenwürde, die auch die Unveräußerlichkeit ihrer Rechte beinhaltet, als Schutz vor staatlichen Interventionen eingeführt worden.
Nach dem internationalen Pakt der UNO, der von den meisten Mitgliedsstaaten unterschrieben wurde, werden die Menschenrechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde hergeleitet: „In der Erwägung, dass nach den in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Grundsätzen die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, in der Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten”. [4]
Bald haben Experten festgestellt, dass auch der Begriff Menschenwürde unterschiedlich interpretiert werden konnte, und dass ein Missbrauch dieses Konzeptes durchaus möglich war: “Nicht mehr die Menschenwürde ist der tragende Grund der Menschenrechte, vielmehr werden alle Möglichkeiten des Lebens in Menschenwürde auf das neue Ordnungsgefüge der Gesellschaft zugeschnitten, mit der Folge, dass Inhalt und Umfang der dann gestalteten Grundrechte vom Willen der für die neue Ordnung verantwortlichen Machthaber abhängig sind. Die ‘gestatteten’ Grundrechte drücken die völlige Umkehr der bestehenden Ordnung aus: Nicht mehr natureigene Menschenrechte, die ‘alle Staatsgewalt begrenzen und beschränken’, wären maßgebend, sondern menschliche Gesetzgebung wäre für die Zubilligung von Grundrechten zuständig”. [5]
Es gibt nämlich einige grundsätzliche Probleme:
Wenn die Würde als Autonomie des Menschen und als Fähigkeit zu einem moralisch verantworteten Handeln verstanden, aber ein objektives Wertesystem abgelehnt wird, dann gibt es eigentlich keine Handlung, die an sich gut oder schlecht ist, sondern sie wird schlecht, wenn sie die Würde eines anderen Menschen verletzt. Es ist der kantische Imperativ: “Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst”. [6] Verwerflich wäre also die Instrumentalisierung der eigenen oder einer fremden Person.
Die Erkenntnis des Menschen als Person ist eine Errungenschaft der jüdisch-christlichen Tradition. Wegen seiner Gottesebenbildichkeit bekommt der Mensch eine besondere Würde, die durch die Menschwerdung des Logos noch mehr akzentuiert wird. Die Menschenwürde gründet sich also auf der allen Menschen gemeinsamen Gottesebenbildlichkeit.
Die Erkenntnis des Menschen als Person ist eine Errungenschaft der jüdisch-christlichen Tradition. Wegen seiner Gottesebenbildlichkeit bekommt der Mensch eine besondere Würde, die durch die Menschwerdung des Logos noch mehr akzentuiert wird. Die Menschenwürde gründet sich also auf der allen Menschen gemeinsamen Gottesebenbildlichkeit.
Der hl. Augustinus (354-430) vertieft das Konzept der Gottesebenbildlichkeit: als Abbild Gottes soll der Mensch in sich eine dem Dreieinigen Gott ähnliche Struktur aufweisen. Augustinus entwickelt also eine trinitarische Psychologie und beschreibt in seinen Werken in der Seele drei wichtige Kräfte: “Aus dem reichen Schatz der unmittelbar gewissen Bewusstseinstatsachen will Augustinus diese drei Seelenkräfte, Gedächtnis, Vernunft und Wille (memoria, intelligentia, voluntas) in besonderer Weise herausheben und zur analogen Erkenntnis der göttlichen Trinität verwerten”.
[7] Eine trinitärische Struktur könne auch in anderen Lebewesen beobachtet werden, aber mit einem Gradunterschied im Vergleich zum Menschen: “Gott gab ‘der vernunftlosen Seelen Gedächtnis, Sinneswahrnehmung und Strebvermögen, der vernunftbegabten aber darüber hinaus Geist, Erkenntnis und Willen'”. [8] Das Zitat aus dem Der Gottesstaat, genauer aus dem V. Buch, wo Augustinus nach einer grundsätzlichen Kritik der Astrologie von der Willensfreiheit und der menschlichen Natur spricht. Der Mensch unterscheidet sich also von den Tieren, weil Sinneswahrnemung und Strebevermögen durch Intellekt und Willen ergänzt werden.
Der Jahrhunderte lange Kampf des christlichen Menschenbilds gegen die Astrologie erlebt einen schweren Rückschlag im späten Mittelalter. Durch die Rezeption der arabischen Philosophie, bzw. der arabischen Kommentatoren der Werke des Aristoteles, haben Astrologie und deterministische Menschenbilder einen neuen Impuls erhalten. Diese Theorien sind zuerst von Kirchenlehrern wie Bonaventura von Bagnoregio, Albert dem Grossen und Thomas von Aquin und später auch von den Humanisten bekämpft worden. Der Humanismus kann tatsächlich als eine Reaktion gegen den astrologischen Determinismus arabischer Herkunft verstanden werden, mit der Betonung der Willensfreiheit und der Verantwortung des Menschen für die eigenen Handlungen im Gegensatz zum Schicksal. Ein Text des Humanisten Pico della Mirandola (1463-1494), die Rede über die menschliche Würde, ist über Jahrhunderte hinweg als eines der wichtigsten Dokumente dieses neuen Menschenbildes betrachtet worden. Für Pico ist die Würde des Menschen mit der Willensfreiheit eng verbunden, d.h. der Einzelne kann selber bestimmen, welche Potentialitäten der eigenen Natur entwickeln will. Gott selber hätte sich an den Menschen gewendet und diese Möglichkeit geöffnet:”Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. […] Du kannst nach unten hin bis ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche”. [9] Die menschliche Würde ist sicher mit der Willensfreiheit verbunden, aber es gibt auch einen unkorrekten Gebrauch dieser Freiheit, der verhängnisvolle Folgen haben kann, nämlich die Entartung ins Tierische.
Leider wird all zu oft der christliche und sogar katholische Hintergrund des Humanismus des Spätmittelalters sowie der frühen Neuzeit vergessen. Der Humanismus war nicht ein Aufbruch gegen Religion und Transzendenz oder gegen die thomistische Scholastik, sondern gegen die aristotelische Scholastik. Es ist falsch, den klassischen Humanismus aus der Sicht moderner Theorien zu interpretieren. Für den Humanismus war der Mensch nicht das Maß aller Dinge, sondern Ebenbild Gottes, mit einer stabilen Natur, und Potentialitäten, die die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten darstellten und nicht ein evolutionäres Wesen auf dem Weg nach einem posthumanen Zustand, was eigentlich genau dem entspricht, was Friedrich Nietzsche gepredigt hatte, „der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch”. [10]
Die unberechtige Vereinnahmung der frühen Humanisten durch die moderne Kultur stellt nicht eine akademische sondern eine grundsätzliche Frage dar: Guardini spricht von der neuzeitlichen Unredlichkeit, „Jenes Doppelspiel, welches auf der einen Seite die christliche Lehre und Lebensordnung ablehnte, auf der anderen aber deren menschlich-kulturelle Wirkungen für sich in Anspruch nahm”. [11]
Augustinus hat wie die anderen Kirchenväter und später die Humanisten das heidnisch-astrologische Menschenbild bekämpft. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Astrologie an Bedeutung verloren, ihr Grundgedanke aber, dass der Mensch von Naturkräften bestimmt wird, hat nur eine Wandlung erlebt, es sind nicht mehr Planeten und Gestirne, die den Menschen bestimmen, sondern biologische Prozesse. Das naturalistische und das christliche Menschenbild setzen aber unterschiedliche Welt- und Gottesbilder. Wenn es keinen personalen Gott gibt und das Universum nur aus unpersönlichen Kräften, d.h. nur aus Energie besteht, kann man unmöglich im Menschen eine personale Dimension annehmen. Auch der Mensch kann nichts anderes sein als ein energetisches Phänomen. Das menschliche Bewusstsein wäre nicht die Erscheinung einer immateriellen Seele sondern nur das Epiphänomen neurobiologischer Prozesse. Papst Bendedikt XVI. hat in der Enzyklika Spe salvi die Eigenartigkeit des Menschen erklärt: „Nicht die Elemente des Kosmos, die Gesetze der Materie, herrschen letztlich über die Welt und über den Menschen, sondern ein persönlicher Gott herrscht über die Sterne, das heißt über das All; nicht die Gesetze der Materie und der Evolution sind die letzte Instanz, sondern Verstand, Wille, Liebe – eine Person. Und wenn wir diese Person kennen, sie uns kennt, dann ist wirklich die unerbittliche Macht der materiellen Ordnungen nicht mehr das Letzte; dann sind wir nicht Sklaven des Alls und seiner Gesetze, dann sind wir frei. Ein solches Bewusstsein hat die suchenden und lauteren Geister der Antike bestimmt. Der Himmel ist nicht leer. Das Leben ist nicht bloßes Produkt der Gesetze und des Zufalls der Materie, sondern in allem und zugleich über allem steht ein persönlicher Wille, steht Geist, der sich in Jesus als Liebe gezeigt hat”. [12]
[1] Van Rensselaer Potter, Bioethics: The science of survival. In Perspectives in Biology and Medicine 1970 14:127-153.
[2] Edmund D. Pellegrino, Generelle Aspekte und Fragestellungen, in Bioethik in den USA, Methoden – Themen – Positionen, Hans-Martin Sass (Hrsg.), Springer, Berlin, 1988, S. 22.
[3] Ebd., S. 59-60
[4] UNO, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Abgeschlossen in New York am 16. Dezember 1966, Präambel, http://www.admin.ch/ch/d/sr/i1/0.103.1.de.pdf., unterladen am 24.1.2010.
[5] Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in Ders., Menschenwürde und Menschenrecht. Ausgewählte Artikel, Verlag für Geschichte und Politik. Oldenbourg, Wien 2004, S. 207-208.
[6] I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zit., S. 61.
[7] Michael Schmaus, Die psychologische Trinitätslehre des hl. Augustinus, Aschendorf, Münster 1969, S. 264.
[8] Ebd., S. 264-265, das Zitat bezieht sich auf Augustinus, De civitate dei V, 11.
[9] Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Lateinisch/Deutsch, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 9.
[10] Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zaratthustra, in Ders., Werke in Drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Zweiter Band, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, S. 281.
[11] R. Guardini, zit., S. 91.
[12] Papst Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 30. November 2007, N. 5.